01.06.2019

Tipps zur Kommunikation in der Pubertät

Auf dem Weg ins Erwachsenenleben: In der Pubertät wird alles auf den Kopf gestellt. Das ist ganz schön anstrengend – für Jugendliche und Eltern! Der erfahrene Diplompädagoge Reinhard Winter gibt uns von Nottbeck im Interview Tipps, damit Sie zwischen Streitereien, tagelangem Schweigen und der ersten Zigarette nicht die Nerven verlieren.

Herr Winter, was passiert eigentlich, wenn die Pubertät einsetzt?

Die Pubertät ist ein extremer Umbauprozess, der wechselseitig in Kopf und Körper stattfindet. Die Entwicklung beginnt im Gehirn des Kindes und setzt sich dann im Körper fort. Informationen, die bisher abgespeichert waren, werden abgebaut und verschwinden, nur einige "Hauptbahnen" bleiben erhalten. Gleichzeitig wandelt sich der Körper: Er wächst, die Geschlechtsorgane bilden sich aus, die Körperbehaarung nimmt zu. Die Pubertät ist eine Zeit von Chaos und Offenheit – das spiegelt sich übrigens häufig in der Unordnung des Kinderzimmers wider! Die Jugendlichen wollen und müssen neue Erfahrungen machen, sind neugierig und risikobereiter.

Wann setzt die Pubertät ungefähr ein?

Das ist sehr verschieden, in den Statistiken kann man Pubertätseinstiege mit einem Unterschied von drei, vier Jahren erkennen. Auch spielt das Geschlecht eine Rolle, Mädchen kommen manchmal schon mit acht oder neun Jahren in die Pubertät, Jungen meist erst mit zehn bis zwölf.

Diplompädagoge Reinhard Winter

Was sind erste pubertäre Anzeichen?

Das einzig typische Anzeichen ist eigentlich die Vielfalt. Pubertät kann sich ganz unterschiedlich äußern. Wenn Sie merken, dass sich das Verhalten und die Interessen Ihres Kindes ändern, ist das ein Zeichen dafür, dass das Gehirn beginnt, sich umzubauen. Häufig suchen die Kinder vermehrt den Konflikt, wirken aufmüpfiger. Auch die Selbststilisierung spielt eine Rolle, Mode wird wichtiger und der Nachwuchs möchte nicht mehr den Bärchenpullover anziehen, den Mama rausgelegt hat. Körperliche Anzeichen sind das Wachstum, die Ausbildung der primären und sekundären Geschlechtsorgane und ein erhöhtes Schamgefühl.

Warum fällt es vielen Eltern schwer, mit pubertierenden Kindern umzugehen?

Da sprechen Sie einen wichtigen Punkt an. Die Kinder sind natürlich in einer schwierigen Phase. Die Eltern aber auch! Viele registrieren ihre eigene Rolle in dieser Zeit kaum, einzig und allein das Kind gilt als schwierig. Die Pubertät bedeutet für Eltern aber eine Beziehungskrise, da sich ihre Rolle verändert. Das Kind braucht sie nun in einer anderen Form als bisher, es löst sich vermehrt von ihnen. Außerdem setzt die Pubertät häufig zu einem Zeitpunkt ein, in dem die Erwachsenen sich auch ohne Kinder in einer schwierigen Lebensphase befinden würden: Im Job ist man gefestigt, das Haus ist gekauft, die Routine hält Einzug. Da kommen Sinnfragen auf, mit denen man sich auseinandersetzen muss. Und dann noch ein pubertierendes Kind im Haushalt – bei dieser Doppelbelastung kann man gar nicht erwarten, dass die Eltern entspannt bleiben.

Das heißt, eigentlich ist die Pubertät ein Problem der Eltern?

Nein, die Jugendlichen haben natürlich einen riesigen Anteil daran, dass die Kommunikation schwierig wird. Bei Jungs schießt das Testosteron durch den Körper. Das ist ein Status- und Handlungshormon, das sie dazu treibt, Neues auszuprobieren und risikofreudiger zu werden. Bei Mädchen setzen die gleichen Prozesse ein, das Testosteron wird allerdings in einem geringeren Maße gebildet, deswegen sind sie nicht ganz so risikobereit. Die Kinder gehen in Richtung Erwachsensein. Sie kennen nichts von dem, was vor ihnen liegt, alles ist undefiniert. Stellen Sie sich diese Herausforderung vor! Die Jugendlichen entwickeln sich anhand von Reibungen und Streitereien. Sie brauchen den Konflikt, denn er bedeutet Fortschritt. Es ist also normal und richtig, dass im Alltag die Fetzen fliegen – leicht ist es deswegen natürlich trotzdem nicht.

"Ich bin dann mal weg." In der Pubertät suchen Kinder neue Freiheiten.

Würden Sie sagen, dass wir insgesamt zu konfliktscheu sind?

Ja. Jugendliche brauchen Erwachsene mit stabilen Meinungen und Ansichten, an denen sie sich reiben können. Ich finde es höchst verdächtig, wenn es in einer Familie während der Pubertät ganz ruhig bleibt. Das spricht eher dafür, dass schwerwiegendere Probleme als die ganz normale Pubertät vorliegen.

Sie sind Jungsexperte. Inwiefern unterscheiden sich die Konflikte in Bezug auf das Geschlecht?

Keiner von den beiden hat es leichter. Aber die Pubertät und die Schwierigkeiten äußern sich unterschiedlich. Jungen reagieren in Konflikten oft heftiger, schreien herum und werden wütend. Mädchen werden manchmal hysterisch, neigen zum Rückzug und Beleidigtsein.

Alles ganz anders: Jungen und Mädchen kämpfen mit unterschiedlichen Herausforderungen während der Pubertät.

Kann ich überhaupt in der Pubertät noch Erziehungsarbeit leisten oder ist es dafür schon zu spät?

Nein, zu spät ist es definitiv nicht. Aber die Erziehung verändert sind. Es geht nun mehr um Entwicklungsunterstützung und Mitgestaltung. Jetzt kommen wieder die angesprochenen Konflikte ins Spiel: Bei intellektuellen Auseinandersetzungen, in denen es um richtige Werte wie beispielsweise Verantwortung, Demokratie oder Loyalität geht, entwickelt sich der Jugendliche. Das heißt nicht, dass das Kind so werden soll wie seine Eltern! Aber es braucht stabile und klare Meinungen, um seine eigene Position zu finden – und sei es eine komplett konträre zu derjenige der Eltern.

Wir als Eltern haben häufig das Gefühl, dass in einem Streit absolut nichts von dem, was wir sagen, bei unserem Kind ankommt. Was raten Sie uns?

Zunächst einmal: Freuen Sie sich über jeden Konflikt! Denn er bedeutet Beziehungsarbeit. Ein Streit bedeutet, dass Gefühle vorhanden sind, eine Beziehung da ist. Sie setzen sich mit ihrem Gegenüber auseinander und sind gleichzeitig verbunden über die Emotionen. Das ist fantastisch! Denn das Kind will zur selben Zeit mit Ihnen in einer Beziehung bleiben und sich absetzen. In diesem Spannungsfeld befinden Sie sich, setzen Sie sich damit auseinander und bleiben Sie in der Kommunikation. Schwieriger wird es, wenn das Kind sich zurückzieht und das Gespräch komplett verweigert. Manchmal sind die Eltern der Grund dafür, weil sie nicht so auf das Kind zugehen, wie es das braucht. Wenn die Eltern beispielsweise nur belanglose oder, das andere Extrem, viel zu intime Fragen stellen. Dann sollten Sie Ihre Strategie ändern und versuchen, einen neuen Zugang zu Ihrem Kind zu finden.

Die Schule ist häufig ein Leidthema während der Pubertät. Was kann ich tun, wenn mein Kind einfach keine Lust mehr auf die Schule hat und sich verweigert?

Mode und Stilbewusstsein entwickeln sich in der Pubertät.

Die Interessen der Jugendlichen verändern sich, andere Themen wie Beziehungen, Sexualität und Freundschaft sind einfach viel spannender als binomische Formeln. In einem gewissen Rahmen ist es normal, dass die Kinder sich mit der Schule schwertun. Es ist aber auch ein Irrglaube, dass Schule immer an Spaß und Lust gekoppelt sein muss. Schauen Sie sich den aktuellen Stundenplan eines Sechstklässlers an: Bei dem Umfang und der Varianz kann man doch gar nicht auf alles Lust haben. Wichtig ist, dass Sie als Eltern trotzdem realistische Minimalforderungen als "Leitplanken" setzen: Solange das Kind beispielsweise einen Schnitt von mindestens 3,0 in den Hauptfächern hat, mischen Sie sich nicht ein. Meistens reicht schon die Androhung, mit Papa wieder Mathe lernen zu müssen, damit das Kind sich auf seinen Hosenboden setzt.

Haben Sie ein Mantra für alle Eltern, um in der Pubertät ihrer Kinder nicht die Nerven zu verlieren?

"Es ist nur eine Phase, das geht vorbei."

Reinhard Winter hat die pubertäre Phase mit seinen beiden erwachsenen Kindern schon hinter sich. Der Diplompädagoge lebt in Tübingen, wo er das Sozialwissenschaftliche Institut (SOWIT) leitet. Als Jugendlicher war er Pfadfinder, während seiner Zeit dort wurde der Verband auch für Mädchen geöffnet. Die Diskussion und das Geschlechterthema wurden ihm also schon früh mit auf den Weg gegeben – heute hat er sich auf Jungen und Männer spezialisiert. Neben seiner praktischen Beratung, der wissenschaftlichen Arbeit und Fachkräftequalifizierung hat Reinhard Winter mehrere erfolgreiche Bücher verfasst, unter anderem "Jungen brauchen klare Ansagen".